Anlässlich der Eröffnung der Tiroler Literaturtage in Hall eine besondere Empfehlung:
Alan Kaufman: Judenlümmel. A. d. Amerikan. von Jürgen Schneider. [Orig.: Jew Boy, USA 2000].
Zirl: Edition BAES 2014.
Alan Kaufman, geb. 1952 in New York, aufgewachsen in der Bronx, lebt in San Francisco.
Rezension von Helmuth Schönauer
Spätestens
seit Woody Allen ducken wir europäischen Nachfahren der
Hitler-Herrschaft immer wieder zusammen, wenn wir hören, wie sich der
jüdische Witz oft gegen die jüdischen Witzeerzähler
selbst richtet und dabei schonungslos Muster freilegt, die sich nur mit
dem Witz überwinden lassen.
Alan
Kaufman erzählt in seiner autobiographischen Kollektion in fein heraus
gearbeiteten Erlebnislinien, wie ein sogenannter Judenlümmel in der
Bronx erwachsen und schließlich auch
noch Schriftsteller wird. Dabei hat es der Ich-Erzähler nicht leicht,
das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden, die Gevierte in der
Bronx von den Quadranten am Globus und das individuelle Schicksal von
der Geschichte der Menschheit. Wie in allen Geschichten,
die mit der Kindheit und Jugend zu tun haben, geht es um den
Erfahrungsprozess, worin sich die Helden in einer anonymen Staffage erst
zu unverwechselbaren Individuen entwickeln müssen.
Der
Erzähler leidet an einer Hinterhofidentität, die Mutter ist als
französische Jüdin vor dem Holocaust geflüchtet und deutet die Welt als
Auftrag, die Naziherrschaft zu überleben.
„Wird es Krieg geben? - Nichts wird je so schlimm sein wie das, was uns
damals unter Hitler widerfahren ist.“ Einen entsprechenden Bildband
über den Holocaust liest der Junge als Comics. Und der Vater sagt
anlässlich von Bar Mitzwa: Das ist die Antwort auf
Hitler. (130)
In
der Schule läuft die Aufklärung freilich nicht so eindeutig ab. Dem
Erzähler wird das griechische Wort für Muschi als Kosename angehängt und
er läuft jahrelang als sexuelle Floskel
in der Bronx herum, ehe er dann in die Erotik eingeführt wird. In einem
Bordell wartet er, dass es irgendwie losgeht, und tatsächlich tritt
eine nackte Frau aus der verdunkelten Bett-Ordination und fragt: „Wer
ist der Nächste bitte?“ (253)
Allmählich
entsteht am Fluss, an dem die Truppe die Freizeit verbringt, das Gefühl
für die Freiheit da draußen auf der Welt. Der mittlerweile leicht
schriftstellerisch tätige Erzähler
bemerkt: „Die Realität verfügte über keine Sprache.“ (317) Daraufhin
nimmt er einen Kredit, eine kleine Wohnung und bricht per Autostopp auf
nach Denver. Dort gibt es dann den ersten zufälligen Reise-Sex, den die
Beteiligten „treu und entspannt“ abwickeln,
ehe es mit dem Güterzug nach Hause geht, ständig verprügelt und zur Sau
gemacht von der Bahnpolizei.
Als
die Jugend vorbei und der Erzähler ein Schriftsteller geworden ist,
gibt es noch eine historische Erlebniskurve, die über einen
Kibbuz-Aufenthalt in Israel und dem Besuch der
Gedenkstäten in Dachau zu dem großen finalen Poem führt: „Wer sind wir,
/ die bedroht dastehen / in diesen Zeiten der Finsternis? / Wer sind
wir, verurteilt zu sterben, / die wir uns überhaupt nicht / kennen?“
(502)
Alan
Kaufman erzählt die wilde Geschichte einer ungewöhnlichen Kindheit aus
dem Bauch der Bronx heraus. Dabei wird das Unschöne mit dem Witz
geadelt, die eigenen Schwächen werden
gepflegt, bis sie keine mehr sind, und was als Kind keinen Sinn macht,
wird aufgehoben, bis man sich als Erwachsener darüber hermachen kann.
Eine geniale Überlebensstrategie.
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