Freitag, 26. September 2014

lese LIEBER ungewöhnlich

Der Zirler Literaturzirkus
lädt alle ein, die nicht nur gerne lesen, sondern sich auch über das Gelesene austauschen möchten!


Als ersten Text lesen wir 
"Die Entdeckung der Currywurst"
von Uwe Timm


Wann: 16. Oktober um 19 Uhr

Wo: Bibliothek Zirl




Anmeldungen bitte in der Bücherei oder bei Sonja unter literaturzirkus@gmail.com

Wichtig: Voraussetzung für die Teilnahme ist, das Buch gelesen zu haben!

Mittwoch, 10. September 2014

Judenlümmel

Anlässlich der Eröffnung der Tiroler Literaturtage in Hall eine besondere Empfehlung:

Alan Kaufman: Judenlümmel. A. d. Amerikan. von Jürgen Schneider. [Orig.: Jew Boy, USA 2000].
Zirl: Edition BAES 2014.

Alan Kaufman, geb. 1952 in New York, aufgewachsen in der Bronx, lebt in San Francisco.



Rezension von Helmuth Schönauer
Spätestens seit Woody Allen ducken wir europäischen Nachfahren der Hitler-Herrschaft immer wieder zusammen, wenn wir hören, wie sich der jüdische Witz oft gegen die jüdischen Witzeerzähler selbst richtet und dabei schonungslos Muster freilegt, die sich nur mit dem Witz überwinden lassen.
Alan Kaufman erzählt in seiner autobiographischen Kollektion in fein heraus gearbeiteten Erlebnislinien, wie ein sogenannter Judenlümmel in der Bronx erwachsen und schließlich auch noch Schriftsteller wird. Dabei hat es der Ich-Erzähler nicht leicht, das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden, die Gevierte in der Bronx von den Quadranten am Globus und das individuelle Schicksal von der Geschichte der Menschheit. Wie in allen Geschichten, die mit der Kindheit und Jugend zu tun haben, geht es um den Erfahrungsprozess, worin sich die Helden in einer anonymen Staffage erst zu unverwechselbaren Individuen entwickeln müssen.
Der Erzähler leidet an einer Hinterhofidentität, die Mutter ist als französische Jüdin vor dem Holocaust geflüchtet und deutet die Welt als Auftrag, die Naziherrschaft zu überleben. „Wird es Krieg geben? - Nichts wird je so schlimm sein wie das, was uns damals unter Hitler widerfahren ist.“ Einen entsprechenden Bildband über den Holocaust liest der Junge als Comics. Und der Vater sagt anlässlich von Bar Mitzwa: Das ist die Antwort auf Hitler. (130)
In der Schule läuft die Aufklärung freilich nicht so eindeutig ab. Dem Erzähler wird das griechische Wort für Muschi als Kosename angehängt und er läuft jahrelang als sexuelle Floskel in der Bronx herum, ehe er dann in die Erotik eingeführt wird. In einem Bordell wartet er, dass es irgendwie losgeht, und tatsächlich tritt eine nackte Frau aus der verdunkelten Bett-Ordination und fragt: „Wer ist der Nächste bitte?“ (253)
Allmählich entsteht am Fluss, an dem die Truppe die Freizeit verbringt, das Gefühl für die Freiheit da draußen auf der Welt. Der mittlerweile leicht schriftstellerisch tätige Erzähler bemerkt: „Die Realität verfügte über keine Sprache.“ (317) Daraufhin nimmt er einen Kredit, eine kleine Wohnung und bricht per Autostopp auf nach Denver. Dort gibt es dann den ersten zufälligen Reise-Sex, den die Beteiligten „treu und entspannt“ abwickeln, ehe es mit dem Güterzug nach Hause geht, ständig verprügelt und zur Sau gemacht von der Bahnpolizei.
Als die Jugend vorbei und der Erzähler ein Schriftsteller geworden ist, gibt es noch eine historische Erlebniskurve, die über einen Kibbuz-Aufenthalt in Israel und dem Besuch der Gedenkstäten in Dachau zu dem großen finalen Poem führt: „Wer sind wir, / die bedroht dastehen / in diesen Zeiten der Finsternis? / Wer sind wir, verurteilt zu sterben, / die wir uns überhaupt nicht / kennen?“ (502)
Alan Kaufman erzählt die wilde Geschichte einer ungewöhnlichen Kindheit aus dem Bauch der Bronx heraus. Dabei wird das Unschöne mit dem Witz geadelt, die eigenen Schwächen werden gepflegt, bis sie keine mehr sind, und was als Kind keinen Sinn macht, wird aufgehoben, bis man sich als Erwachsener darüber hermachen kann. Eine geniale Überlebensstrategie.